Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa – ein erster Einblick in die Erkenntnisse der historischen Forschung

Ein Tagungsbericht von Ansgar Reiß und Sabine Witt, Berlin

Exil und Migration haben eine besondere Bedeutung für die Entwicklung des Calvinismus, so ein Resümee der neuen Calvinforschung. Die vielfältigen Forschungen zu Johannes Calvin und dem Calvinismus wurden auf einem Symposium vom 16. bis 18. April 2008 in Berlin zusammengetragen.

Das Sympoium im Deutschen Historischen Museum fand statt im Rahmen der Vorbereitungen für die Ausstellung "Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa", die das Deutsche Historische Museum in Berlin in Kooperation mit der Johannes a Lasco-Bibliothek in Emden vom 6. März bis zum 19. Juli 2009 zeigen wird. Die Beiträge des Symposiums werden im März 2009 in der Publikation zur Ausstellung nachzulesen sein.
Die wichtigsten Erkenntnisse der Tagung fassen die Kuratoren der Ausstellung, Dr. Ansgar Reiß und Dr. Sabine Witt, in einem Tagungsbericht zusammen:

Das Symposium wurde eröffnet durch ein Grußwort von Bischof Wolfgang Huber. Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland betonte die Bedeutung der Erinnerung an Calvin für alle aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen. Die Reformation könne nicht als etwas historisch abgeschlossenes betrachtet werden, sondern sie dauere fort. Damit war von vornherein ein Akzent gesetzt, der das Thema aus einer rein historischen Bedeutung heraushob und darauf verwies, dass die historischen Fragestellungen immer auch im Licht der Gegenwart gesehen werden müssen.

Die Tagung gliederte sich in vier Sektionen, „Johannes Calvin und die Lehre des Calvinismus“, „Verbreitung des Calvinismus in Deutschland und Europa“, „Kirchliches Leben und Frömmigkeit“ und „Kultur, Bildwelten und Politik“.

In der ersten Sektion untersuchte zunächst Herman J. Selderhuis (Apeldoorn) Bild und Selbstbild Calvins. Dem ausgesprochen negativen Bild, das etwa Lord Acton und Stefan Zweig entwarfen, die ihn als Feind der Toleranz darstellten, stehen wenige und wenig einflussreiche positive Bilder gegenüber. Zur Entwicklung eines Idealbildes kam es, obwohl seine Schriften hohe Autorität genossen, schon im 16. Jahrhundert nicht. Ansätze zu einer persönlichen Verehrung sind nirgends sichtbar und wurden auch von Calvin selbst ausdrücklich abgelehnt. Calvin sei durchaus bereit gewesen, eigene Schwächen zu thematisieren. Wichtig sei dann aber, so Selderhuis, seine starke Identifikation mit Gestalten des Alten Testaments. So verstand er sich wie Moses als Führer eines Volkes in der Wüste (ohne dass er seinen Einfluss in Genf überschätzt hätte), er sah sich wie Jeremias als Prediger, und vor allem seine Darstellung Davids erscheint in vieler Hinsicht als Selbstdarstellung.

Christoph Strohm (Heidelberg) machte es sich entschieden zur Aufgabe, „Calvins theologisches Profil“ aus den Überformungen zu lösen, die sein Bild nicht erst seit dem 19. Jahrhundert, sondern schon im politischen Kampfbegriff „Calvinismus“ in den 1550er Jahren erlitten hatte. Gerade die Prädestinationslehre hätte in den späteren Auseinandersetzungen viel mehr Aufmerksamkeit gefunden, als ihr gebühre. Was zunächst die Theologie angehe, so sei Calvin neben Luther vor allem von Martin Bucer in Straßburg beeinflusst worden. Er folge Luther in der Betonung der Differenz von Gesetz und Evangelium, ordne aber in der zweiten Auflage der seines Hauptwerkes „Institutio religionis christianae“ dem Gesetz neben beiden Aufgaben, die Ordnung der Gesellschaft aufrecht zu erhalten und den Menschen angesichts der Unerfüllbarkeit des Gesetzes Demut zu lehren, auch einen dritten, für die Christen bestimmten, Gebrauch zu. Hier habe der Anspruch der Reformierten, die Reformation des Lebens in Angriff zu nehmen, eine genuine Wurzel. Calvin betone in der Nachfolge Bucers stark die Kontinuität vom Alten zum Neuen Testament und stufe beim zentralen Gedanken der Erwählung gegenüber Luther das Predigtgeschehen gegenüber einem reinen Geisthandeln zurück. Wesentlicher Grund für den großen Erfolg von Calvins Theologie sei ferner seine breite Rezeption des Humanismus. Sein Geistbegriff habe nicht zuletzt platonische Wurzeln. Calvin gebrauche den Begriff „theologia“ praktisch nicht, vielmehr gehe es ihm um die Hinführung zur rechten Beziehung („religio“) zwischen Gott und Mensch. Von erheblicher Bedeutung sei schließlich Calvins juristische Schulung. Dem juristischen Begriff der Billigkeit („aequitas“) entspreche die Lehre von der Anpassung („accommodatio“) des Wortes Gottes an die Beschränktheit des Menschen, die Wirkung auf den angesprochenen dritten, positiveren Gebrauch des Gesetzes habe. In der Ethik werde der Anspruch Gottes auf das Ganze der Schöpfung und damit auch auf den Menschen schärfer formuliert, indem dieser Anspruch als Recht begriffen werde. Zusammenfassend betonte Strohm neben der Majestät Gottes als zentralem Bestandteil der Theologie Calvins nochmals die Orientierung an Christus als der Form, in der sich uns Gott darstelle. Die Mahnung, sich in Demut der Vorsehung Gottes anzuvertrauen, unterscheide Calvin von der Hervorhebung der Rechtfertigung bei Luther. Sie spiegle Calvins Erfahrung von Exil und Vertreibung und er zeige darin durchaus mystische Züge.

Irene Dingel (Mainz) gab einen konzisen Überblick über „Schwerpunkte calvinistischer Lehrentwicklung“ bis ins 17. Jahrhundert. Für den Calvinismus als Konfessionskirche seien zunächst natürlich die Bekenntnisschriften entscheidend. Hier ist das von Heinrich Bullinger verfasste Zweite Helvetische Bekenntnis von 1566 der zentrale Bezugspunkt. Es verweise zurück auf den Consensus tigurinus von 1549, in dem sich die Züricher und Genfer Reformatoren in wesentlichen Punkten geeinigt hatten, und seine Bedeutung zeige sich u.a. sehr deutlich an der Harmonia confessionum fidei von 1581. Neben diesen Bekenntnisschriften behandelte Dingel die sog. Unterscheidungslehren, in denen sich das reformierte Bekenntnis vor allem mit dem Luthertum auseinandersetzte. Wesentliche Stationen dieser Auseinandersetzung können an Erinnerungsorten wie Poissy, Montbéliard, Dordrecht und Saumur festgemacht werden. Schließlich machten Reformen im zeremoniellen Bereich sichtbar, wie die konsequente reformatorische Lehre auch das Leben veränderte. Dingel verwies hier auf die Bereiche der Kirchenausstattung, die Verwendung des Brotes beim Abendmahl, den Psalter und die Taufliturgie.

Irena Backus (Genf) analysierte ein für die calvinistische Richtung der Reformation typisches Medium, die nach systematischen Gesichtspunkten geordnete Zusammenstellung der Hauptlehren. Dazu stellte sie die Werk- und Publikationsgeschichte der „Institutio“ Calvins, der „Loci communes“ Pietro Martire Vermiglis und der „Summa der christlichen Religion“ Heinrich Bullingers einander gegenüber. Die „Institutio“, von vornherein als Kompendium der Lehre geplant, wurde 1576 von Nicolas Colladon bis zur Unkenntlichkeit durch Register, Zusammenfassungen, Querverweise und andere Lesehilfen ergänzt. Bemerkenswert ist, dass sich hier umfassende Querverweise auf Werke von Luther und Erasmus finden. Vermiglis „Loci communes“ hingegen wurden erst nach seinem Tod durch Robert le Maçon aus seinen Schriften, vor allem Bibelkommentaren, nach dem Vorbild der „Institutio“ zusammengestellt und entwickelten sich zu einem für die calvinistische Lehre sehr wichtigen Werk. Bullingers „Summa“ wiederum, volkssprachlich und in viel einfacherer Form, bot dem gläubigen Laien eine Anleitung zum christlichen Leben und Sterben.

Der Abendvortrag von Friedrich Wilhelm Graf (München) führte eindringlich die Prägung unserer Vorstellungen von „Calvinismus“ durch das 19. Jahrhundert vor Augen. Er zeichnete zunächst die Begriffsgeschichte bis hin zu Ernst Troeltschs Verbindung mit dem Modernisierungsbegriff nach und stellte nachfolgend als Wurzel der modernen Konnotation des Begriffs mit religiösem Aktivismus die psychologistische Typologisierung protestantischer Bekenntnisse bei dem Berner Theologen Matthias Schneckenburger heraus. Graf zog dann die Linie der interpretativen Verbindung des Calvinismus mit einem der Republik zuneigenden Bürgerhumanismus und schließlich der Genesis von Menschenrechten von Pufendorf über Karl Bernhard Hundeshagen, Hermann Weingarten und Georg Jellinek bis hin zu Michael Walzer nach. Was den Konnex mit dem Aufstieg der modernen Erwerbsgesellschaft anbelangt, die sich durch Max Webers Studien in den Köpfen festgesetzt habe, so stellte Graf schließlich eine „globale Verselbständigung“ der (Denk-)Figur des Puritaners fest. Der Vortrag schloss mit einem Gedankenexperiment, in dem das skizzierte religionssoziologische Instrumentarium einer „moralischen Ökonomie“ auf die moderne, aus ganz anderen Ursprüngen erwachsene Pfingstbewegung angewandt wurde. Die Tagung sah sich mit der These konfrontiert, der „Calvinismus“ lebe heute mehr als in den reformierten Gemeinden in eben diesen Deutungsmustern weiter.

Die zweite Sektion der Tagung widmete sich der Verbreitung des Calvinismus in Deutschland und Europa.

Eike Wolgast (Heidelberg) stellte die reformierten Territorien und Dynastien im Alten Reich vor. In seinem territorialen Überblick hob er hervor, dass mit der Kurpfalz der vornehmste weltliche Reichsstand reformiert geworden sei, und dass das Ius reformandi beim Übertritt eines Fürsten zum Calvinismus im allgemeinen nicht genutzt wurde. Die Gründe für den Übertritt seien jeweils stark in der persönlichen Entscheidung des jeweiligen Fürsten zu suchen, zumal das reformierte Bekenntnis trotz des Reichstags von 1566 reichsrechtlich ungesichert gewesen sei. Wichtig für die Konversion sei allerdings die Bildung einer internationalen reformierten Bekenntnisgemeinschaft angesichts der Bedrohung durch die Gegenreformation und das Haus Habsburg gewesen. Die Trägerschaft liege eindeutig bei einer nicht zuletzt wegen der Verfolgungen notgedrungen sehr mobilen juristischen und theologischen Elite. Entsprechend gab es erheblichen und nachhaltigen Widerstand bei den Landständen und in der Bevölkerung, die sich an einer Verschiebung des Machtgleichgewichts zugunsten des Fürsten und an der Entemotionalisierung und Rationalisierung von Glaube und Liturgie stießen. Nach der faktischen rechtlichen Anerkennung 1648 schließlich ging die Zahl reformierter Territorien und Dynastien tendenziell wieder zurück.

Joachim Bahlcke (Stuttgart) zeichnete für das östliche Europa Entwicklungen nach, die hier im Spannungsfeld vorreformatorischer Erfahrungen, einer ständestaatlichen Struktur und der Herausbildung ethnischer Identitäten standen. In Polen-Litauen traten Teile des katholischen wie des orthodoxen Adels zur reformierten Glaubensrichtung über. Auf der Synode in Sandomir 1570 kam es zur wechselseitigen Anerkennung der verschiedenen Richtungen, und das Toleranzgebot der Warschauer Konföderation 1573, die dem Adel individuelle Gewissensfreiheit zusprach, hatte im Grunde bis ins 18. Jahrhundert Bestand. Für Ungarn und Siebenbürgen warnte Bahlcke davor, die Dreiteilung des Landes, so wichtig sie zweifellos war, zu überschätzen. Die Selbstbehauptung des Ständestaates sei hier eng mit dem Festhalten an der reformierten Konfession verbunden, die Widerstandstheorie habe hier besondere Resonanz gefunden, und Siebenbürgen bilde eine Art Angelpunkt. Das reformierte Bekenntnis habe in der Folge auch der habsburgischen Gegenreformation nach der Zurückdrängung der Osmanen Widerstand entgegensetzen können. In Böhmen konzentrierte sich der reformierte Einfluss im 16. Jahrhundert innerhalb einer zunehmend konfliktreichen, pluralen Konfessionslandschaft auf die Brüdergemeinden. Insgesamt sei, nicht nur in der Wahrnehmung der Aufklärung, für das östliche Europa von einer retardierten Säkularisierung zu sprechen.

Albert de Lange (Karlsruhe) wandte sich dann einem eher unbekannten Feld zu: Dem Einfluss Calvins in Italien, genauer seiner Beziehung zu den Waldensern im Umkreis der Verfolgungen um 1540. Die Waldensertäler waren 1536 bis 1559 französisch. Calvin setzte sich 1539 zwar beim Schmalkaldischen Bund für die Belange der Waldenser ein, aber da sich ansonsten kaum direkte Beziehungen erweisen lassen, erstaunt die Predigtoffensive, die die Genfer Compagnie des pasteurs seit 1555 trotz heftigem Widerstand für die Waldenser in Piemont startete, also zwei Jahre bevor eine große Zahl von Predigern nach Frankreich gesandt wurde. Allerdings hatte Calvin deutliche Vorbehalte gegenüber einer populären, ungesteuerten Durchsetzung oder Fortführung der Reformation.

Judith Pollmann (Leiden) analysierte dann den Calvinismus in den Niederlanden in der Spannung zwischen einer öffentlichen Kirche oder Staatskirche und der freien Mitgliedschaft in den Gemeinden. Es habe sich bei der Vorstellung eines „reformierten“ niederländischen Staates immer um eine Fiktion gehandelt, die allerdings zum Teil wirkmächtig gewesen sei. Tatsächlich gab es eine große konfessionelle Unentschiedenheit und Vielfalt. Wesentlich sei, dass die Mitgliedschaft in der Gemeinde, sichtbar an der Zulassung zum Abendmahl, nicht wie etwa bei den Hugenotten im Alter von 12 Jahren, sondern erst mit 18 aufgrund eines freien Entschlusses erworben worden sei. Diese Mitgliedschaft stehe in eindeutiger Korrelation mit der Familiengründung und der Übernahme von öffentlichen Ämtern, sie sei aber keineswegs zwingend gewesen. Dabei waren Frauen deutlich überrepräsentiert. Dies erkläre sich daraus, dass die Mitgliedschaft besonders für Unverheiratete eine Garantie der Ehre und eines nicht sektiererischen Geistes dargestellt habe. Die Attraktivität des Calvinismus habe generell nicht zuletzt in der Exklusivität gelegen, die die Mitgliedschaft in der Gemeinde vermittelt habe.

Robert von Friedeburg (Rotterdam) skizzierte das Verhältnis von Staats- und Freiwilligenkirche für England, Schottland und Neuengland. In England und Schottland habe dezidiert eine Staatskirche bestanden, nach dem Tod Heinrichs VIII. sei die Abkehr von der alten Messe erfolgt. Als Wurzel des späteren Bürgerkrieges machte Friedeburg die unterschiedlichen Erfahrungen von Exulanten und im Land Gebliebenen seit der Regierung Marias I., der Katholischen, aus. Während Elisabeth I. die Vorstellung eines dritten Weges entwickelte, hätten zurückkehrende Exulanten in einem Marsch durch die Institutionen ihre Überzeugungen durchzusetzen versucht. Diese „Puritaner“ seinen zum Teil von der Staatskirche einbezogen worden, hätten aber doch in Betzirkeln und Briefwechseln eine unabhängige Kultur entwickelt, die Voraussetzung für das Zerbrechen des Konsenses um 1620 gewesen sei. Während in Neuengland keinerlei kirchliche Einheit zustande kam, erlangte der Calvinismus in Schottland eine gegenüber England viel tiefere Verankerung. Er entfaltete den radikalen, alttestamentarischen Biblizismus eines kämpfenden Volkes Gottes, der sich durch den Verlauf des Bürgerkrieges dann völlig diskreditiert habe.

Die dritte Sektion der Tagung beschäftigte sich mit kirchlichem Leben und Frömmigkeit.

Stefan Ehrenpreis (Berlin) sprach zunächst über Hofcalvinismus und Exilkirche als zwei Modellen von Kirchenverfassung und Politik. Bedeutendstes Beispiel für den Hofcalvinismus ist Brandenburg, wo sich neben dem Kurfürsten selbst einige Adelige und ein Teil des dem Hof nahestehenden Bürgertums der Residenzstadt dem Calvinismus zuwandten. Eine weitere Ausbreitung erfolgte in einzelnen, verstreuten Gemeinden und vor allem im Bildungswesen. Nirgends habe es eine presbyteriale Kirchenverfassung gegeben. Dem stellte Ehrenpreis Minderheitengemeinden am Niederrhein, insbesondere in Köln, gegenüber, in denen sich Flüchtlingsgemeinden dauerhaft etablieren konnten. Die Herkunft aus den Niederlanden zeige sich auf dem Weseler Konvent 1568 und der Synode von Emden 1571, der Zusammenschluss sei auf der Generalsynode von Duisburg 1610 zustande gekommen. Die genauere Beschreibung der Kölner reformierten Gemeinden gab einen Einblick in die Alltagsarbeit der Presbyterien und machte die häufig vernachlässigte Bedeutung der Minderheitenkirchen deutlich.

Heinrich Richard Schmidt (Bern) sprach über Kirchenordnungen und Kirchenzucht in Europa. Großen Unterschieden in den territorialen Ordnungen stehe eine erstaunliche Einheitlichkeit in der konkreten Ordnung und Zucht der Gemeinden gegenüber. Diese finde ihr Zentrum in den Presbyterien und der Abendmahlsgemeinschaft und sei gerade in der Strafpraxis eine besondere Form der Versöhnungsarbeit. Die territorialen Ordnungen hingegen differierten in den verschiedenen Staaten erheblich und lehnten sich vielfach an andere Modelle an. Im Anschluss an Max Webers Studie zu den Sekten lokalisierte Schmidt den Ursprung der protestantischen Ethik in der Gemeinde. Wesentlich sei, dass die Zucht in die Hände von Laien gelegt wurde und deshalb Selbstzucht war.

Elsie McKee (Princeton) beschäftigte sich mit der Lehre vom Diakonat bei Calvin. Ihre Besonderheit gegenüber anderen reformatorischen Lehren bestehe darin, dass sie die fürsorgliche Tätigkeit von der seelsorgerischen trenne. Eine Ordinierung sei nicht nötig, die Kirchenordnung sei nicht heilsnotwendig, aber doch von der Schrift vorgeschrieben. Auf der Grundlage dieser Auffassungen habe sich das Diakonat als ein eigenständiges Amt entwickelt, das sich nicht ins ältere Schema einer klaren Trennung von kirchlichen und weltlichen Funktionen füge. Die Rollen von Frauen und Männern seien darin nochmals differenziert. Innerhalb der Kirchenordnung sei das Diakonat immer den Presbytern untergeordnet und habe keine Stimme im Kirchenregiment. Zum Teil habe Calvins Lehre Begründungen für eine bestehende Praxis geliefert, und so sei es zur Übernahme mancher Strukturen auch durch Lutheraner und Katholiken gekommen.

Alfred Rauhaus (Emden) untersuchte an Beispielen aus Ostfriesland die Gestaltung des Gottesdienstraumes als materialisierter Theologie. Auffällig ist die Herausbildung eines eigenen Raumes für die Abendmahlsgemeinde. Oft sei der funktionslos gewordene frühere Altarraum zu diesem Zweck genutzt worden. Der Prediger trete hier unter die Gemeinde und man reiche sich Brotteller und Kelch gegenseitig zu. Während das Geschehen zunächst unter den Augen des nicht am Abendmahl teilnehmenden Teils der Gemeinde stattfand, sei die Sichtverbindung erstaunlicher Weise später mancherorts baulich abgeschnitten worden. Zu deuten sei dies eventuell als Bild des Gerichtes Gottes, während die prächtige Gestaltung der Dreisitze, Tische und Kelche theologisch den göttlichen Thronsaal spiegle.

Arie de Reuver (Utrecht) widmete sein Referat den reformierten Frömmigkeitsformen in den Niederlanden im 17. Jahrhundert. Den Ausgangspunkt bildete der Hinweis auf die hohe Bedeutung der Frömmigkeit bei Calvin, die im privaten Raum vor allem die Formen von Gebet, Schriftlektüre und Meditation angenommen habe. Dabei war die Lektüre das tragende Element. Calvin selbst habe so der Frömmigkeitsbewegung des 17. Jahrhunderts („nähere Reformation“ in den Niederlanden, Puritanismus, Pietismus) den Weg gewiesen. Für das Gebet bezog sich Reuver auf Willem Teellincks „Schlüssel der Devotion“ (ndl. 1655), der es als vertrautes Sprechen mit Gott beschrieb. Für die Schriftlektüre unterschied Wilhelm à Brakel in seinem Werk „Vernünftiger Gottesdienst“ (ndl. 1700) das wissenschaftliche Lesen von einem „praktikablen“, das nach der persönlichen Bedeutung für den Leser fragt. Sein Vater Theodor à Brakel gab in „Die Staffel des geistlichen Lebens“ (ndl. 1670) Anweisung zur Meditation, die sich als Meditation über die Schrift darstellt. Dabei verwendete er eine Sprache, die wie das zentrale Problem des Zwanges, über das zu sprechen, was man für unaussprechlich hält, an die mystische Tradition anknüpfte.

Wilhelm Hüffmeier (Potsdam) beschäftigte sich mit dem reformierten Erbe in den kirchlichen Unionen des 19. Jahrhunderts, vor allem mit den preußischen Unionen. Die Kernthese war, dass die Unionen von reformierter Seite vorgedacht, initiiert und ausgeformt wurden, obwohl die Reformierten nicht einmal vier Prozent der Bevölkerung stellten. Der Einfluss zeige sich in der Agende, der synodalen Kirchenverfassung und im Bekenntnis. So stieß der 1817 im Jahr des Reformationsjubiläums ergangene Unionsaufruf des Königs, der eingebettet war in weitreichende kirchliche Reformbestrebungen, gerade bei den Lutheranern auf Widerstand. Und eine verbreitete Überzeugung von der Überwindbarkeit des innerevangelischen konfessionellen Gegensatzes oder seine Herabstufung zu einem Gegensatz von Schulen (Schleiermacher) bedeutete doch keineswegs das Ende des Konfessionalismus; vielmehr bekam er neue Nahrung. So sei eine konfessionell gegliederte Kirchengemeinschaft entstanden.

Außerhalb des Symposiums, aber wegen der engen Zugehörigkeit hier anzusprechen ist ein Vortrag, den Wolfgang Brückner (Würzburg) schon in der vorausgehenden Woche am gleichen Ort gehalten hatte. Er beschäftigte sich mit der kulturprägenden Kraft der reformierten Konfession. Eine eindeutige Zuordnung alltagskultureller Phänomene zur Konfession bleibe problematisch, zu sehr überschnitten sich die Einflüsse mit ökonomischen, sozialen, lokalen und traditionalen Faktoren. Allenfalls etwa im engeren Bereich der kirchlichen Zeremonialtracht sei sie möglich, wobei der äußere Anschein der Einfachheit keineswegs höchste Kostbarkeit ausschließe. Ähnliches gelte auch für die Zeremonien selbst. Allerdings sei auch hier mit starken Überformungen durch Prozesse im 19. Jahrhundert zu rechnen, so das skeptische Resultat.

Die vierte Sektion am letzten Tag der Tagung fasste noch einmal ein breites Themenspektrum ins Auge: Kultur, Bildwelten und Politik.

Den Anfang machte Gerhard Menk (Marburg/Gießen) mit einem Beitrag zu „Hochschul- und Schulwesen des Calvinismus. Bedingungen und Ziele eines Bildungssystems“. Er hob die Einbettung der Hochschulen in eine allgemeine Bildungskonzeption hervor. Eine Besonderheit war die internationale, auch transatlantische Erstreckung. Diese half auch, durch gegenseitige Anerkennung der vergebenen Titel die fehlende kaiserliche oder päpstliche Privilegierung auszugleichen und so ein eigenes, neues Normensystem zu etablieren. Trotz der Dordrechter Synode sei es auf keinem Feld der Lehre zu einer Vereinheitlichung gekommen, wie sie das gleichzeitige jesuitische Bildungswesen auf katholischer Seite kennzeichne.

Andrew Pettegree (St Andrews) sprach über „Calvinismus und Buchdruck“. Die Buchproduktion um 1500 habe sich auf einige wenige Städte konzentriert, zu denen im 16. Jahrhundert nur wenige neue Zentren wie London, Wittenberg, Antwerpen und Genf hinzugekommen seien. Calvin habe zunächst in Basel und Straßburg publiziert, um dann in den 1540er Jahren, schließlich ab 1552 vollständig, auf Genf umzustellen. Dies ging einher mit einer herausgehobenen Stellung Genfs als Druckort für französischsprachige evangelische Werke, die dann mit der großen Ausgabe des Psalters von 1562, für die schon viele Arbeiten ausgelagert werden mussten, wieder verloren ging. Pettegree konnte statistisch untermauern, wie nach Calvins Tod zwar die Zahl der französischen und lateinischen Neuausgaben seiner Bücher zurückging, gleichzeitig aber viele Ausgaben in anderen europäischen Sprachen erschienen. Dies sei besonders intensiv in England zu beobachten und könne ein Argument für einen calvinistischen Konsens in England sein.

Klaus Merten (Berlin) stellte den Kirchenbau der Reformierten in Europa vor. Schon die Referenzbauten in Lyon (1564) und La Rochelle (1577) machen den radikalen Bruch mit der Tradition des Kirchenbaus deutlich. Der Chor wurde funktionslos und verschwand, statt dessen waren einerseits der Abendmahlstisch und andererseits die Kanzel, auf die die Bänke in ansteigender Reihe ausgerichtet wurden, zentral. Der Raum sollte möglichst nicht durch Pfeiler oder Säulen verstellt sein. In anderen europäischen Ländern gab es zunächst wenig Bedarf für Neubauten. In Holland entstanden seit der Mitte des 17. Jahrhunderts Neubauten, die zum Teil an die mittelalterliche Tradition anschlossen, zum Teil noch einmal eigene Formen zeigten. Die holländischen Formen beeinflussten Nordwest- und Norddeutschland, während Frankreich auf die Westschweiz und ebenfalls auf Norddeutschland ausstrahlte. Gerade in Berlin hätten sich die Einflüsse dann überschnitten, aber um die Mitte des 18. Jahrhunderts sei mit der allgemeineren Verbreitung querrechteckiger Formen in Brandenburg die Erkennbarkeit reformierter Architektur geschwunden.

Jan Rohls (München) widmete sein Referat der theoretischen Philosophie, wie sie an reformierten Lehranstalten vertreten wurde. Von hoher Bedeutung war zunächst die Rezeption des Petrus Ramus, dessen dialektische Anordnung des Wissens den Aristotelismus überflüssig machen wollte. Theodor Beza in Genf bezog sich aber statt dessen auf die humanistische Neurezeption der Logik des Aristoteles bei Melanchthon. In der Folge gab es Versuche, beides zu verbinden, und am Beginn des 17. Jahrhunderts habe sich die Philosophie in der Form eines erneuerten Aristotelismus als Propädeutik aller Wissenschaften, also auch der Theologie, etabliert. Descartes’ Versuch einer völligen Erneuerung der Philosophie sei dann auf erheblichen Widerstand auch von reformierter Seite gestoßen. Aber auch die Verurteilung der Lehren Spinozas nach der Regierungsübernahme durch Wilhelm III. von Oranien habe die Verbreitung der neuen Lehre nicht aufhalten können, die mit der neuen Physik, dem neuen, heliozentrischen Weltbild und mit einer historisch-kritischen Lektüre der Schrift verbunden gewesen sei.

Unter dem Titel „Hot Protestantism“ analysierte Martin van Gelderen (Florenz) die politische Sprache der englischen und niederländischen Calvinisten. Er ging aus von der großen staatstheoretischen Kontroverse, in der auf der einen Seite Hugo Grotius das Gemeinwesen aus dem Konsens der Einzelnen konstruierte und der Obrigkeit eine delegierte, dem Gemeinwohl verpflichtete Macht zuschrieb, während auf der anderen Seite die Verworfenheit des Menschen betont und die politische Souveränität aus der umfassenden Souveränität Gottes abgeleitet wurde. Diesem Gegensatz habe der Unterschied zwischen einer erasmischen, dialogischen Rhetorik und einer geradlinigen Rhetorik absoluter argumentativer Sicherheit entsprochen. Der Konflikt sei schließlich im „Hot Protestantism“ des frühen 17. Jahrhunderts in England und den Niederlanden in verschiedenen polemischen und satirischen Medien auf die Straße getragen worden, wodurch die Politik als Sache aller Bürger neu definiert worden sei.

Im abschließenden Vortrag kehrte Hartmut Lehmann (Göttingen) zu Max Weber zurück und untersuchte die Rezeption seiner Thesen über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus. Provokant an Webers These sei zunächst die Betonung nicht-ökonomischer Faktoren gerade in der Ökonomie gewesen. Während Ernst Troeltsch auf dem Historikertag 1906 Webers These in ein Panorama der Ursprünge der modernen Welt einordnete, Werner Sombart sein Argument auf die Rolle der Juden übertrug und Lujo Brentano auf die Vernachlässigung Italiens hinwies, präzisierte Weber seine These, indem er sie pointiert auf den modernen Kapitalismus bezog und sie in vergleichender Betrachtung anderer Weltreligionen zuspitzte. Nach der breiten Rezeption, die Weber in der angelsächsischen Welt und seit den 60er Jahren auch wieder auf dem Kontinent gefunden habe, stellte sich die Situation heute für Lehmann in dem Paradox dar, dass einerseits die sachliche Kritik an Webers Thesen überwiege, dies aber andererseits der Popularität und anregenden Kraft derselben offenbar keinen Abbruch tue.

Heinz Schilling (Berlin) unternahm es, in der Form einiger „Merkpunkte“ ein erstes Resümee zu ziehen. Er verwies zunächst auf die außerordentliche Breite des Phänomens und auf den Systemunterschied der Frühen Neuzeit gegenüber dem 19./20. Jahrhundert sowohl in realen Prozessen wie in Deutungen. So trete die Notwendigkeit hervor, die Person Calvins neu herauszuarbeiten. Deutlich geworden sei die Bedeutung des Exils für die Entwicklung des Calvinismus. Eine freiere, öffentlich verantwortlichere Rolle der Frauen sei ein nur vorübergehendes Phänomen gewesen. Während die Rolle des Abendmahls für die Konstituierung der calvinistischen Gemeinden genauere Betrachtung verdiene, stelle sich die Situation im Feld der Politik einigermaßen paradox dar. Während in Calvin selbst sicherlich kein Ahnvater der Republik zu finden sei, sei doch der Calvinismus durch die besondere historische Konstellation in die welthistorische Rolle gerückt, entscheidende Rechtfertigungen für die Republik geliefert zu haben.

Für die Vorbereitung der Ausstellung ergaben sich aus der Tagung eine Fülle von Perspektiven, aber es wurde in der Diskussion auch deutlich, dass hier noch andere Themen von Bedeutung sein müssen. So war der Vortrag von Klaus Garber über die nationalen Literaturen leider ausgefallen, und der französische Protestantismus war zurückgestellt worden, nicht zuletzt, weil hierzu am Deutschen Historischen Museum im Jahr 2005 eine große Ausstellung gezeigt worden war. Auch wurde die Frage der Bilderfeindlichkeit zwar in vielen Referaten angesprochen, sie war aber nicht eigens Thema. Als prägende und verbindende Elemente des Calvinismus traten das Gefühl der Bedrohung und die Erfahrung von Vertreibung und Exil sehr deutlich in den Vordergrund. In nationalen Grenzen lässt sich seine Geschichte in keiner Weise darstellen. Die Beiträge des Symposiums werden im März 2009 in der Publikation zur Ausstellung nachzulesen sein.

Dr. Ansgar Reiß, Dr. Sabine Witt, Berlin

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D – 10117 Berlin
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E-Mail: reiss@dhm.de / witt@dhm.de

Mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Arbeitsgemeinschaft historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland e.V. (AHF) auf www.reformiert-info.de.

Empfohlene Zitierweise / recommended citation style:
AHF-Information. 2008, Nr.092
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Barbara Schenck
3. April bis 19. Juli 2009, Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, Berlin

Zum 500. Geburtstag Calvins erstellen das Deutsche Historische Museum und die Johannes a Lasco Bibliothek eine Ausstellung, die Anfänge, Verbreitung und Auswirkungen des Calvinismus in Deutschland und Europa darstellt. Der zeitliche Rahmen reicht von den reformatorischen Bewegungen des Spätmittelalters bis ins 20. Jahrhundert. Kuratoren der Ausstellung sind Dr. Ansgar Reiß und Dr. Sabine Witt.